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Familie ist wie ein Baum:
Auch wenn die Äste in unterschiedlichste Richtungen wachsen, die Wurzeln halten alles zusammen.
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Astrid
Jahrgang 1970; aufgewachsen als Einzelkind in einem Vorort von Hagen i.W.; Abitur 1989, danach Studium LA Primarstufe (Grundschul-Lehramt) in Dortmund; 1. Staatsexamen 1994; Referendariat schwanger angetreten und nicht mehr beendet; seit 1995 dann Familienfrau im Homeoffice; Das hört sich jetzt ziemlich unspektakulär an, war es aber absolut nicht. Vielleicht nach außen hin, so nach dem Motto „Meine Familie, mein Haus, meine Tiere“ – wir konnten uns sehen lassen. Aber welche Prozesse ich als Frau und Mutter durchlaufen habe, darüber könnte ich wohl Bücher schreiben.
Die Kleinkinderzeit war körperlich anstrengend, ohne Frage, aber ich konnte meinem Bild von Familie in dieser Zeit weitestgehend gerecht werden, was sehr befriedigend war und mir ein Gefühl von Kompetenz verschaffte. Dieses nette Bild bekam die ersten Kratzer, als sich die heranwachsenden Kinder in eine Richtung entwickeln wollten, auf die ich nicht vorbereitet war und die nicht in meinem Kompetenzbereich lagen.
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Da mir die Folgen meiner eigenen Erziehung durch meine Eltern sehr bewusst geworden waren, wollte ich es bei meinen Kindern unbedingt anders machen. Ich wollte ihnen gerne ersparen, ihre Seele später mit Hilfe von viel Seelsorge oder Psychotherapie mühsam in Ordnung bringen zu müssen. Das gelang mir zunächst auch recht gut, weil ich als Mutter sehr verständnisvoll reagierte und schwierige Situationen oft intuitiv gut gelöst habe. Wir haben unseren Kindern immer sehr viel Freiraum gelassen, damit sie ihre eigenen Erfahrungen machen konnten. Wir unterstützten sie in ihren Entscheidungen, auch wenn es nicht immer die besten waren.
Eine Weisheit ist uns dabei unendlich wichtig geworden: Kinder müssen nicht den Erwartungen ihrer Eltern entsprechen! Sie sollen eigene Wege gehen dürfen, um ihren eigenen Zugang zum Leben zu finden, und dabei dürfen sie Umwege machen und in Sackgassen stranden. Wir Eltern sind doch immer im Hintergrund online, erreichbar und im Notfall sofort zur Stelle. Das ist doch das, was Familie letztendlich ausmacht, oder? Da sein, wenn es schwierig wird, aushalten, was geschehen ist und ohne Verurteilung beim Weitergehen unterstützen – immer mit dem Blick nach vorne, im Vertrauen, dass alles gut wird.
Dann gibt es aber auch Situationen, die diesen Blick so nicht zulassen und die uns verzweifelt und ohnmächtig erstarren lassen. Einige solcher Momente findest du hier:
Durch einen Verkehrsunfall 2010 wurde Rainer ein ganzes Jahr aus dem Berufsleben gerissen. Für die ganze Familie war diese Zeit sehr belastend und hat uns auf eine harte Probe gestellt. Unsere älteste Tochter musste ihr FSJ 2013 abbrechen, da sie in eine akute Magersucht gerutscht war. Beim Abholen hat Rainer sie nur an ihrem Rucksack erkannt, so entstellt war sie durch die Krankheit. Parallel dazu mussten wir unsere großartige Münsterländer Hündin einschläfern lassen, da sie an einem Knochentumor litt und vor Schmerzen nicht mehr laufen konnte. Im Alter zwischen 14 und 16 Jahren war unser Sohn neben der Schule nur noch vor dem PC anzutreffen, wo er sich mit Online-Spielen eine krasse Parallelwelt aufgebaut hatte, zu der wir keinen Zutritt hatten. Die jüngste Tochter hatte mit 17/18 Jahren ihre „wilde Zeit“, in der sie die Schule geschmissen hat, mehr nachts als tags aktiv war, ihr „Material“ intensiv gecheckt hat und ihr Auto durch „Freunde“ fast einen Totalschaden erlitt.
2019 erlitt unsere älteste Tochter einen septischen Schock, den sie nur wie durch ein Wunder überlebte. Durch eine schwere Komplikation, das Waterhouse-Friederichsen-Syndrom, starben ihre beiden Füße ab und mussten in der Folge amputiert werden. Sie war zu der Zeit 24 Jahre alt und gerade in den Startlöchern in eine neue berufliche Zukunft.
Seit 2015 sind wir Pflegefamilie. Erst für Bereitschaftspflege, seit 2016 dann für Dauerpflege. 2020 zog ein zweites Pflegekind bei uns ein. Gleichzeitig begann Rainer seine dreijährige Ausbildung zum Erzieher. Diese Umorientierung war für ihn und für uns alle eine große Herausforderung: plötzlich wieder Schüler und damit Lernender zu sein, gleichzeitig aber auch im Berufsleben mit Schichtarbeit zu stehen – das bedeutete nicht nur für Rainer eine komplette Neustrukturierung des Alltags. Lernzeiten mussten etabliert und unsere Termine seinem Stunden- und Dienstplan angepasst werden. Ich fühlte mich wie an ganz kurzer Leine. Zudem stand ich mit den beiden Jungs oft mutterseelenalleine da, was mich, besonders zu den Zubettgehzeiten, häufig an die Grenzen meiner Belastbarkeit brachte. Mit Unterstützung des Jugendamtes und zweier „Babysitter“ gelang es mir, zu überleben und mir zwischendurch kleine Oasen zu schaffen, in denen ich Kraft tanken konnte.
Wie du siehst, waren die letzten zehn Familienjahre alles andere als öde. Im Gegenteil, nie zuvor war ich so am Ende meiner Kräfte und meiner Weisheit und noch nie war ich derart mit mir selbst konfrontiert, wie in dieser Zeit. Wenn ich ein Resümee aus all diesen Jahren ziehe, dann folgendes: Die Herausforderungen mit unseren eigenen Kindern waren wohl die Vorbereitung auf die Zeit mit den Pflegekindern.
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Verfasser: Astrid