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Familie 2.0 oder auch "Wir dachten, wir wüssten wie´s geht!

An dieser Stelle möchten wir davon berichten, wie unsere Pflegekinder unsere eigentlich gefestigte Sicht auf die Welt gehörig durcheinandergebracht haben.


Das Abenteuer Familie 2.0 begann ganz unspektakulär. Unsere beiden ältesten Kinder waren 2014 bereits ausgezogen und die Drittälteste stand in den Startlöchern zur Selbstständigkeit. Das Haus wurde leerer und wir standen vor der Frage, was wir in Zukunft damit anfangen würden. Verkaufen war zu diesem Zeitpunkt noch kein Thema, zumal meine Eltern mit im Haus wohnen und wir sie nicht vor die Tür setzen wollten. Daher erschien uns die Option, die leeren Räume wieder mit Leben zu füllen, als die passendste. Dafür kam für uns nur eine Form von Jugendhilfe in Frage. Nach kurzer Recherche entschieden wir uns für die Bereitschaftspflege. 


Bereitschaftspflege bedeutet, dass man kleine Kinder, die aus ihren Herkunftsfamilien herausgenommen werden müssen, von jetzt auf gleich für eine befristet Dauer bei sich aufnimmt, bis geklärt ist, wo sie in Zukunft dauerhaft leben können. Ein Zeitraum, der endlich und damit überschaubar ist. Wir fühlten uns wohl mit dem Gedanken, es zu versuchen, aber auch die Möglichkeit zu haben, aufzuhören, wenn es nicht zu uns passen sollte. Es war von Anfang an klar, dass wir nicht direkt mit dem Jugendamt zusammenarbeiten wollten. Es war mehr ein Gefühl als Gründe, die wir dafür hatten. Unsere bisherigen Kontakte zum Jugendamt waren eher unspektakulär, hinterließen aber ein Gefühl der Unsicherheit und des sich unverstanden Fühlens, was wir nicht nochmal erleben wollten. Der nächste Schritt war dann also, uns einen Träger der Jugendhilfe zu suchen, der uns bei der Umsetzung der Idee unterstützen würde. Auch hier wurden wir nach kurzer Internetrecherche fündig. Anfang 2015 folgte die Vorbereitung auf diese neue Aufgabe: mehrere Gespräche und die Teilnahme an einer Schulung waren Pflicht. Uns kam dabei die Erfahrung aus unserer eigenen Familienzeit sehr zugute und wir fühlten uns allein schon durch unser bisheriges Leben gut auf diese Aufgabe vorbereitet.


Im August 2015 zog dann der kleine J. bei uns ein. Er war zu dem Zeitpunkt 10 Monate alt, kam aus einer Vernachlässigungssituation und hatte sein bisheriges Leben fast ausschließlich im Maxi Cosi verbracht. Infolgedessen war sein Schädel abgeflacht und er war nicht in der Lage, etwas festzuhalten, geschweige denn sich irgendwie fortzubewegen. Es folgten Arztbesuche, um den tatsächlichen Gesundheitszustand zu screenen und um evtl. notwendige Therapien zu installieren. Der kleine Mann hatte Glück: die Kopfform war nicht behandlungsbedürftig – er hätte sonst eine langwierige Helmtherapie über sich ergehen lassen müssen – und die offensichtliche Entwicklungsverzögerung brauchte auch nicht durch Therapien korrigiert werden. Allein durch altersgemessenen Umgang, konstante Versorgung und emotionale Ansprache, entwickelte er sich in atemberaubender Geschwindigkeit in eine gute Richtung. Schnell wurde er der kleine Liebling unserer Töchter und war aus der Familie nicht mehr wegzudenken Als das Gutachten zur Erziehungsfähigkeit der leiblichen Eltern die dauerhafte Unterbringung in einer Pflegefamilie zum Ergebnis hatte, waren wir uns alle einig, dass er in unserer Familie bleiben und aufwachsen sollte. Glücklicherweise waren das Jugendamt und unser Träger der gleichen Meinung, sogar die leiblichen Eltern äußerten diesen Wunsch. Somit wurde das Pflegeverhältnis nach fast genau einem Jahr von Bereitschaftspflege in Dauerpflege umgewandelt.


Dauerpflege bedeutet, dass ein Kind bis zum Erreichen des Erwachsenenalters in einer Pflegefamilie leben und aufwachsen darf. Das heißt, konstanter äußerer Rahmen und konstante Beziehungen, was gerade für Pflegekinder unfassbar wichtig ist. Der Kontakt zu den leiblichen Eltern ist möglich, aber kein Muss. Auch wenn die Situationen, die diese Kinder mit und durch ihre Eltern erlebt haben, meistens sehr prekär und auch traumatisierend waren, haben die leiblichen Eltern immer eine Bedeutung im Leben der Pflegekinder, so dass man sie nicht einfach aus der Biografie der Kinder streichen kann. Das zu akzeptieren und mit den Kindern zu gestalten ist wohl eine der wichtigsten und oft auch herausforderndsten Aufgaben von Pflegeeltern.


Das Zusammenleben mit J. lief weitestgehend entspannt, bis dann die Einschulung in greifbare Nähe rückte. Je mehr ihm bewusstwurde, dass große Veränderungen auf ihn zu kommen würden, desto aggressiver und rebellischer verhielt er sich. Übergänge sind einfach häufig ein großes Thema für Pflegekinder, da Gewohntes zusammen mit Geborgen- und Sicherheit verlassen werden muss, um in eine neue und damit unsichere und unkontrollierbare Umgebung zu wechseln. Dabei benötigen oftmals mehr Unterstützung und mehr Zeit als andere Kinder. Nachdem der Schulstart einigermaßen erfolgreich gelungen war, stand dann zu Beginn des zweiten Halbjahres schon die erste große Veränderung an: die Klassenlehrerin war schwanger und eine neue Lehrerin musste die Klassenleitung übernehmen. Eigentlich keine große Sache, aber für J. bedeutete das eine große Verunsicherung und seine Verlassensängste, die ihn sowieso schon begleiteten, verstärkten sich wieder. Glücklicherweise zeigte sich die neue Lehrerin sehr verständnisvoll und kompetent, so dass J. gut abgeholt und aufgefangen wurde. Schwieriger wurde es dann erst wieder kurz vor den Herbstferien im zweiten Schuljahr. Wir bekamen die Rückmeldung von der Schule, dass J. nur langsam bis gar nicht arbeite, oft Tag träume, lange bräuchte, um anzufangen und ständig erinnert werden müsse, weiterzuarbeiten, um dann auch nur selten fertig zu werden. Da wir das Erledigen der Hausaufgaben schon bald nach Beginn der ersten Klasse wegen extremster Machtkämpfe, die unsere Beziehung aufs äußerste belasteten, in die OGS der Schule outgesourct hatten, waren wir nicht so nah dran am Thema Schule, so dass wir da erstmal verwundert waren. Es folgte das Ausfüllen unterschiedlichster Fragebögen von uns und seitens der Lehrerin. Eine Diagnostik im SPZ wurde in Angriff genommen, eine familientherapeutische Unterstützung bewilligt und ein Antrag auf eine Schulbegleitung gestellt. Es folgte eine Pflegebegutachtung, die einen Grad 2 ergab und ein Schwerbehindertenausweis mit GdB 70 wurde ausgestellt. Ganz unerwartet befanden wir uns mitten im großen Maßnahmekatalog, den wir bisher nur vom Hörensagen kannten. Wo war der aufgeweckte und uns vertraute Junge geblieben, den wir bei uns aufgenommen hatten? Was war passiert? 


Schule, wie sie landläufig existiert, erwartet von den Kindern Leistungsbereitschaft auf Knopfdruck, da nach Stundenplan unterrichtet wird. Lernfenster, wie sie in der Montessori-Pädagogik genannt werden, finden kaum Beachtung, so dass jedes Kind in einer Klasse zur gleichen Zeit das Gleiche lernen muss. Dadurch entsteht ein enormer Anpassungsdruck und das Gefühl, fremdbestimmt zu sein. Beides sind bei Pflegekindern oft sehr brisante Themen. Durch traumatisierende Erlebnisse, in denen die Kinder oft Todesängste erlebt haben, ist das erneute Gefühl des Ausgeliefertseins und des Kontrollverlustes für sie kaum auszuhalten. Dementsprechend heftig sind auch ihre Reaktionen darauf. Manche gehen direkt in die Rebellion oder die Verweigerung, andere schaffen es, sich in der Schule anzupassen und abzuliefern, eskalieren dann aber zu Hause. J. gehört zu den Letzteren. Dadurch verlief der Schulalltag weitestgehend stressfrei, aber die Zeit in der Familie war dann für alle Beteiligten eine enorme Herausforderung und auf Dauer unerträglich. Alles, was bei unseren leiblichen Kindern irgendwie gefruchtet hatte, funktionierte bei J. überhaupt nicht. Wie oft fühlten wir uns ohnmächtig ihm gegenüber und wussten nicht mehr, was wir tun sollten. Für uns war das der Zeitpunkt, an dem wir uns externe Hilfe ins Haus geholt haben. Parallel dazu wurde J. medikamentös eingestellt, so dass er seine Impulse wieder besser steuern und die Anforderungen der Schule unangestrengter erfüllen konnte. Ein großer Schritt zu einem entspannteren Alltag! 


Inzwischen war dann 2020 ein zweiter Junge bei uns eingezogen: er war damals gut drei Jahre alt, J. zu diesem Zeitpunkt fast sechs. Der Kleine kam aus der Bereitschaftspflege, in der er fast zwei Jahre verbracht hatte. Grund der Inobhutnahme im Alter von ca. 18 Monaten war häusliche Gewalt, Drogenkonsum der Mutter und dadurch keine kontinuierliche angemessene Versorgung des Kindes. Für den kleinen Mann war der Wechsel in unsere Familie sehr schwer. Er hatte sich in der Bereitschaftspflegestelle sehr wohl gefühlt und es war für ihn überhaupt nicht nachvollziehbar, warum er nochmal die Familie wechseln musste. Es dauerte fast drei Jahre, bis wir das Gefühl hatten, dass er wirklich bei uns angekommen war. Anfangs gab es viele Rivalitäten zwischen den beiden Jungs und durch die fehlende Impulskontrolle des Älteren zog der Jüngere fast immer den Kürzeren, was die Eingewöhnung nicht gerade gefördert hat. Inzwischen sind die beiden zu einem festen Team zusammengewachsen. Über weite Strecken sind sich die beiden genug und Verabredungen mit Freunden nicht so wichtig. 


Nach außen hin wirken wir oft wie eine ganz normale Familie. Zu Hause fühlen wir uns oft noch sehr herausgefordert und haben weiterhin nicht immer einen Plan für die Konflikte im Alltag. Aber wir lernen jeden Tag dazu und durch Weiterbildung, Lektüre und häufigen Austausch mit anderen Pflegefamilien basteln wir uns unser Konzept, mit dem wir unseren Alltag so leben können, dass sich jeder wohlfühlt. Das ist zumindest unser Ziel.

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Verfasser: Astrid

Über uns

Warum wir diese Website erstellt haben

In unseren gemeinsamen Ehejahren standen die Kinder und unsere Familie immer im Mittelpunkt.....

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